Squealer-Rocks.de Live-Review
Anathema (05.06.2007, Karlsruhe, Substage, Jack)

Nein, in geregelten Bahnen verläuft die Karriere von Anathema beileibe nicht. Der Musik entsprechend war und ist sie stets von knallharten Tiefschlägen begleitet. Dabei sah doch vor wenigen Jahren alles so ungewohnt positiv aus. Nach der Veröffentlichung von Danny’s „Ego-Trip“ (A NATURAL DISASTER) und der zeitgleichen Beendigung aller bandinternen Querelen schien es so, als könne man sich fortan auf eine regelrechte Anathema-Albenwelle einstellen.
Weit gefehlt. Mit der Major-Übernahme des Labels Music For Nations standen die fünf wieder auf der Straße und die Fans warten seither beinahe vergeblich auf das, bereits im Jahre 2004 angekündigte, neue Material.

Doch Anathema, die einstigen Death Metaller, die heutzutage den fast vollkommen konkurrenzlosen Verfechter der düster-progressiven Klänge markieren, kämpfen weiter, stellten sie doch vor einigen Monaten zwei brandneue Songs („A Simple Mistake“ und „Everything“) auf ihre Homepage. Ganz nach der Do-It-Yourself Devise sind sie weiterhin bemüht ihren Namen bzw. ihr musikalisches Markenzeichen in die Welt hinaus zu tragen.

Here we are: Die Cavanagh-Brüder auf einer Pre-Album-Tour und auf einem Zwischenstopp im Karlsruher Substage, dem vorerst einzigen Anathema-Deutschland-Gig des Jahres.


Dass Hektik schon lange nicht mehr zu den Eigenschaften und Tugenden der Briten zu zählen ist, zeigt unweigerlich die Gelassenheit, mit der sich die Ton- und Lichttechniker um die Verkabelung und den Soundcheck kümmern. Selbst Minuten nach dem offiziellen Showbeginn wird noch einmal alles genaustens und selbstredend stressfrei inspiziert. Da können die Massen vor der Bühne noch so laut johlen und klatschen. Gut Ding will eben Weile haben... und wenn man schlussendlich mit einem klaren und sauberen Sound verwöhnt wird, dann dürfen die Jungs gerne länger als geplant an der perfekten Abstimmung werkeln.

Genug drum herum geredet... lasst sie endlich auf die Bühne kommen: „Frauenschwarm“ und Sänger Vincent Cavanagh (meist auch mit Gitarre bestückt), Danny Cavanagh (Gitarre), Jamie Cavanagh (Bass), John Douglas (Schlagzeug) und Les Smith (Keyboards).
Eins muss man Anathema lassen: Ich kenne keine Rockband, die einen derart guten Ruf bei Frauen genießt als das Gespann um die dreifache Cavanagh-Front. Umso weniger erstaunt es einen, dass die Frauenquote umgekehrt proportional zur Bühnenentfernung ansteigt bzw. abfällt (je nach Auslegung, versteht sich). Dementsprechend gut gefüllt ist auch das Substage (der vordere Bereich ist gar so dicht gestaffelt wie seit einem guten halben Jahr nicht mehr).

Eröffnet wird das knapp zweistündige Konzert, bei dem vor wie auf der Bühne eine gelöste Atmosphäre entsteht, von „Balance“ und „Closer“, den siamesischen Zwillingen von A NATURAL DISASTER. Wenn man eine Geburtstagsfeier in Nullkommanix auflösen will, dann räume ich diesen beiden Kompositionen sehr gute Chancen ein. Genauso verhält es sich mit dem Verhalten jedes zahlenden Individuums: Urplötzlich versucht sich der Geist vom Körper (oder andersherum) loszulösen. Letzterer vollführt unkontrollierbare und hypnotische Pendelbewegungen und lässt dazu den Kopf etwas kreisen, während man dazu in Trance eine Reise durch seine eigene Gefühlswelt unternimmt. Klingt nach einem guten LSD-Trip, funktioniert aber ohne das Hinzufügen von irgendwelchen Zusatzstoffen...

Die meisten Blicke des (weiblichen) Publikums zieht natürlich der seit Jahren in Höchstform agierende Frontmann Vincent auf sich, der heute ein rotes Hemd und darüber eine Lederjacke, die er erst zu den Zugaben auszieht, trägt: Es hat ja auch nur schätzungsweise 35 Grad im Venue des Substage. Doch keine Angst: Übermäßig viel bewegen sich unsere fünf Akteure (zwei davon könnten es ja nicht einmal dann, wenn sie wollten) auf der Bühne selbstverständlich nicht. Einmal eine gute Sicht, immer eine gute Sicht!

Über den sehr gothic-lastigen Opener des 99er Werks JUDGEMENT, „Deep“, gelangen Anathema schon recht früh zum ersten (vom gleichen Album stammenden) Mitsingalarm, der da lautet: „Forgotten Hopes“ und ausnahmslos ALLE Fans zur kollektiven Choraktivität anstimmt. Wer jetzt denkt, dass etwas (zuvor) Unbekanntes der ganzen Stimmung den Stecker zieht, der irrt sich, denn Vincent, welcher sich bekanntermaßen mit großen Reden zurückhält und lieber die Musik sprechen lässt, und Co. wissen ganz genau, was sie tun müssen, um die Wirkung des neuen Anathema-Stuffs zu testen. Im Falle von „Ann Further und „A Simple Mistake“ kann man nur sagen: Test erfolgreich bestanden!

Noch ein Wort zur hoffentlich bald erscheinenden neuen Scheibe: Wer bereits in den Bann von A NATURAL DISASTER gezogen wurde, wird die Neue lieben! Eigentlich unvorstellbar, dass sich die anspruchsvollen Labels dieses Planeten nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, damit sie diese Band unter Vertrag nehmen können.

Erstmals härtere Töne können anschließend bei „Empty“ und dem immer wieder bewundernswerten dritten Teil von „Eternity“ bestaunt werden, ehe man mit „Leave No Trace“, „Inner Silence“ und „One Last Goodbye“ jeglichen Härtevorstoß zunichte macht. Das Publikum (bzw. auch die Musiker) verhalten sich sowieso nur bedingt anders – und zwar erhöht sich der Bangfaktor bei manch einem minimal.

Überraschenderweise nicht zum Set gehören heute All-Time-Klassiker wie „Sleepless“ oder „A Dying Wish“ und die Flucht aus der Trance, „Pulled Under A 2000 Metres A Second“. Überhaupt integrieren Anathema heute nichts, das vor 1996 (also vor dem Album ETERNITY) konzipiert wurde, in ihr Live-Liederbuch. Selbst die Tatsache, dass durch das krankheitsbedingte Fehlen der (Gast-)Sängerin Lee die Setliste kurzfristig umgebaut werden musste und so Lieder wie der A NATURAL DISASTER Titeltrack nicht dargeboten werden konnten, hielt das Quintett nicht davon ab, dieser klaren Linie treu zu bleiben. Das nächste Mal wieder.

Lassen wir uns doch lieber von den (einige) positive Vibes versprühenden „Hope“, „Judgement“ und dem A FINE DAY TO EXIT Wachwacher „Panic“ verzaubern. Und ja, es weht tatsächlich ein Hauch „Hoffnung“ und „innerer Friedensschluss“ durch das Substage. Wehe, ich lese auf laut.de nochmal irgendetwas über „Musik für Suizidgefährdete“, dann gibt’s Dresche!

...oder auch nicht... schließe ich bei den besinnlichen, Besitz von mir ergreifenden „A Fine Day To Exit“ („Tränengarantie“), „Temporary Peace“ (Gänsehautgarantie“) und „Flying“ (Mitsinggarantie“) doch lieber meine Augen und begebe mich in andere, nicht-säkulare Sphären. Zumindest solange bis Les durch absichtliches Verspielen alles und jeden aus der Lethargie zurück ins echte Konzertleben holt. Denn Anathema verlassen, kaum einer mag es auf den ersten Blick vernehmen, gerade die Bühne... wenn auch nur für wenige Minuten.

Das vierte neue Stück im Bunde, „Hindsight“, leitet den kurzen aber knackigen Zugabenteil ein. Bestückt mit einem Gläschen Rotwein (wahlweise auch heißer Tee) entern unsere Helden, die für das heutige Konzert Fans aus allen nur denkbaren Himmelsrichtungen anlockten, erneut die Bühne, um eben jenes, noch nicht „fertiggestellte“ (O-Ton Vincent) Stück als Instrumentalnummer vorzutragen.

Doch dann heißt es auch schon Abschied nehmen: „Fragile Dreams“ von der ALTERNATIVE 4 Platte fungiert als Rausschmeißer und gibt einem nach knapp dreistündigem Stehen, einem Flüssigkeitsverlust von unzähligen Litern und dem Umstand, dass das T-Shirt einen Wassertank füllen könnte, die letzte Kraft, um die Meute zum rhythmischen Klatschen, Singen und „Schunkeln“ zu animieren.

Abschließend kann ich nur noch das Rezitieren, was vor einigen Jahren im Metal Hammer über einen Live-Auftritt von Anathema zu lesen war:
„Pink Floyd gibt es leider nicht mehr – aber Anathema machen ihre Sache genauso gut!“... auch ohne Pink Floyd Cover und Duett...

Setliste:
Balance
Closer
Deep
Forgotten Hopes / Destiny Is Dead
Ann Further
A Simple Mistake
Empty
Leave No Trace
Eternity Part III
Inner Silence
One Last Goodbye
Masters
Angels Walk Among Us
Hope
Judgement
Panic
A Fine Day To Exit
Temporary Peace
Flying
Hindsight
Fragile Dreams